{{:damerow2005.jpg?480x324}} Liebe Ingrid, liebe Julia, liebe Sophie, liebe Trauerfamilien, liebe Freunde und Kollegen von Peter, mein Name ist Jürgen Renn, ich spreche zu Ihnen und zu Euch als Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, zu dessen Gründung Peter Damerow entscheidend beigetragen hat und an dem er fast zwanzig Jahre und bis zuletzt gearbeitet hat. Ich spreche zugleich als jemand, der, als sein Schüler und Kollege, bisher sein gesamtes Arbeitsleben mit ihm verbracht hat, vor allem aber spreche ich als Freund der Familie Damerow seit der Zeit als die Töchter Julia und Sophie geboren wurden, und als einer von denen, die mit Peter ihren besten Freund verloren haben. Andere könnten an meiner Stelle stehen, denn in Peters Lebenslauf gab es ganz unterschiedliche Stationen, denen ich nicht allen hier gerecht werden kann: Peter hat als Chemielaborant an der Bundesanstalt für Materialforschung gearbeitet, er hat an der Freien Universität Berlin Mathematik und Philosophie studiert, er hat sich als Bildungsforscher in den siebziger Jahren für die systematische Umsetzung gesamtschulspezifischer Zielsetzungen in Hessen eingesetzt, und seitdem freundschaftliche Kontakte mit Lehrerinnen und Lehrern wie Ilona, Margarete und Wolfgang aufrecht erhalten, und vor allem natürlich mit seiner langjährigen Mitstreiterin Christine Keitel-Kreidt, er hat viele Jahre am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Forschungsbereich von Wolfgang Edelstein gearbeitet, er war ein Pionier in der Erforschung der Entstehung von Schrift und Zahl, ein Thema, über das er zuletzt vor allem mit Bob Englund und Manfred Krebernick gearbeitet hat, und, wie gesagt, er war eine Gründungsgestalt des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Heute nehmen wir Abschied: nicht von Peter, denn er wird in unseren Herzen und Gedanken immer bei uns sein, sondern von dem Leben, das Peter unter uns und mit uns gelebt hat. Mit ihm hat uns auch ein Stück unseres eigenen Lebens verlassen, das wir mit ihm gelebt haben, und das für viele von uns ein großes Stück unseres Lebens, vielleicht das Wichtigste war. Wir müssen lernen zugleich mit ihm und ohne ihn zu leben. Wie er uns vieles gelehrt hat, können wir auch das noch von ihm lernen. Wir erinnern uns: In jeder Lage konnte man ihn um Rat fragen, in wissenschaftlichen Fragen, wenn es um Computerprobleme ging, selbst in Kleinigkeiten, aber auch und gerade in menschlichen Dingen, auch den aller schwierigsten, scheinbar ausweglosen. Immer hat er das ihm angetragene Problem zu seinem eigenen gemacht, beharrlicher darüber nachgedacht, als man es selber getan hätte, mit schier unerschöpflicher Ausdauer, und ohne aufzugeben, bis er nicht nur einen Ausweg, sondern die Lösung gefunden hatte, die oft erst das Problem zu einem ernst zu nehmenden Problem gemacht haben. Oft haben wir uns selbst erst ernst genommen, weil und so wie Peter uns ernst genommen hat. Peter hat uns in vielen Lebenslagen weitergebracht, manchmal auch aus verfahrenen Lagen gerettet, und wir sind ihm so dankbar, dass es kaum Worte dafür gibt. Und wenn es einmal keine Probleme gab, hat er sich welche ausgedacht. Peter liebte Herausforderungen, und er liebte es Herausforderungen zu stellen. Wenn wir mit Kindern zusammensaßen, brachte er sie z.B. dazu, darüber nachzudenken, wie oft die Gläser klingen müssen, wenn jeder mit jedem anderen anstoßen wollte. Selbst vor Tieren machte diese Lust an der intellektuellen Herausforderung keinen Halt. Peter liebte Tiere und sie liebten ihn. Er nahm sie ernst, aber er stellte sie ganz unsentimental vor Herausforderungen. Kein Spatz, der sich zu uns im Sommer an den Mittagstisch gesellte, war davor sicher, von ihm auf die Probe gestellt werden. Kein Wunder also, dass der Begriff der Herausforderung auch in unserer wissenschaftlichen Arbeit eine Schlüsselrolle spielt, z.B. in der Beschäftigung mit den herausfordernden Objekten, an denen sich die Renaissance-Ingenieure abgearbeitet und dabei eine neue Wissenschaft hervorgebracht haben. Auch Peter hat die vielfältigen Herausforderungen, vor die das Leben ihn gestellt hat, immer produktiv genutzt, bis zuletzt. Er hat selbst das Krankenhaus für sich als eine soziale Gemeinschaft entdeckt und sich darin in einer Weise zurechtgefunden, die ihm noch in den letzten Tagen neue Sympathien und Freunde gewonnen hat, mit Offenheit, Zuwendung, Klugheit, und einfach weil er ein außergewöhnlicher Mensch war. Und selbst den medizinischen Eingriffen und Techniken hat er noch ein nüchternes, aber waches Interesse abgewinnen können und hat sie als Belastungen, aber auch als selbstständig zu bewältigende Herausforderungen angesehen. Nur der Tod war ihm, immer schon, wie es Ingrid in den letzten Tagen einmal ausgedrückt hat, „persona non grata“, und in solchen Dingen konnte Peter sehr konsequent sein. Aufgegeben hat Peter nicht, niemals, keinen Freund und kein Anliegen, das ihm wichtig war, und auch das Leben selbst nicht, bis zuletzt. Er war ein Kind der Kriegs- und Nachkriegszeit, in den Trümmern von Berlin-Schöneberg hat er gelernt sich zu behaupten, nicht ohne Bewusstsein für Gefahren, manchmal ängstlich, aber immer gewitzt – was konnte ihn da noch überwältigen, wie konnte es da noch etwas geben, das sich nicht auch produktiv wenden ließe? Peter hat früh seine Mutter verloren und war mehr noch als andere in dieser Zeit auf sich selbst angewiesen. Hier liegen Wurzeln einer ihm früh auferlegten Selbstständigkeit, aus der die beeindruckende Souveränität seines Denkens und Handelns erwuchs, aber auch die Abscheu vor dem Tod. Peter hat diese Selbstständigkeit, die ihm übrigens auch sein Vater in einem langen Leben vorgelebt hatte, ebenso von anderen erwartet und hat sie gefördert, auch bei seiner eigenen Familie, die oft ohne ihn war, weil er soviel Energie und Lebenskraft auf seine Wissenschaft und auf uns, seine Freunde und Kollegen, aufgewandt hat. Trotzdem konnte seine Familie immer sicher sein, dass er für sie da war und sie war es für ihn. Ingrid, Julia, Sophie: Peter hat in allererster Linie zu Euch gehört. Er war kein Mensch, der sich mit irgend etwas gebrüstet hätte, aber auf Euch war er wirklich stolz – das glaube ich nicht nur, das weiss ich aus vielen Gesprächen. Er war stolz auf seine schöne, kluge, selbstständige Familie und auf das, was Ingrid für die Deutsch-Russische Aussöhnung, für das Nicht-Vergessen der Gräuel des Krieges geleistet hat. Er hat uns in vielen Gesprächen an Sophies Engagement für die Tiermedizin teilhaben lassen, Tierfreund, der er selber war. Und er hat sich daran gefreut, wie Julia in seine Fußstapfen getreten ist und heute eine Brücke schlägt, zwischen Peters beiden Familien, der eigentlichen und der Institutsfamilie. Aber solche Brücken gab es immer schon. Als Julia und Sophie noch auf der Schule waren, baten sie Peter manchmal bei schwierigen Hausaufgaben um Rat, und dann haben wir uns als ganze Arbeitsgruppe damit beschäftigt. Einmal hat sogar eine chinesische Kellnerin geholfen, von der sich dann herausstellte, dass sie ein Mathematikstudium aufgegeben hatte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie es unter Peters Einfluss wieder aufgenommen hat. Über das Lernen als selbstständige Auseinandersetzung mit den Problemen des Lebens hat Peter mehr nachgedacht als irgend ein anderer, und dabei immer die konkreten Bedingungen im Auge gehabt, die Lernen überhaupt möglich machen, und die Schwierigkeiten, die ihm im Wege stehen. Er hat sich für ihre Überwindung als Bildungsforscher eingesetzt. Und er hat seine Ursprünge auch später als Wissenschaftshistoriker nicht vergessen, denn die Geschichte der Wissenschaften war für ihn nichts anderes als ein Lernprozess, der die ganze Menschheit betrifft. Die sozialen Hürden kannte Peter aus eigener Erfahrung. Zum Studium kam er über den zweiten Bildungsweg. Als Chemielaborant hatte er angefangen und oft begeistert von der Zeit erzählt, die er in Jugoslawien gearbeitet hat, vom urtümlichen Leben, von den Dynamitfischern, denen eine Hand fehlte, von einer Zeit, als ethnische Konflikte dort keine Rolle spielten. Lange Abende haben wir mit Peter zusammengesessen, beim Westfalen oder zuletzt beim Griechen. Wenn man sich ein Paradies für Peter ausmalen wollte, dann müsste es dort mindestens so eine urgemütliche Kneipe geben, mit den Freunden, mit gutem Essen, mit gepflegtem Bier und unendlich viel Zeit zum Reden. Peter hat so gerne erzählt und konnte gut erzählen, auch über Alltägliches, und immer konnten wir von ihm lernen. Ebenso gut konnte Peter zuhören und Nähe zulassen – ohne sich deshalb kumpelhaft mit unseren Schwächen zu verbünden. Im Gegenteil, gerade den besten Freunden hat er die bittersten Wahrheiten, in den offensten Worten ausgesprochen, zugemutet, und manchmal hat er dies auch Leuten zugemutet, die er gar nicht kannte, und die vor allem ihn nicht kannten. So hat er erst kürzlich einem Gastwissenschaftler nach einem Vortrag gesagt: „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie das, was Sie da als These behaupten, selber glauben können.“ Wer Peter kennt, hört auch aus einer solchen, scheinbar vernichtenden Bemerkung noch den Respekt vor der Intelligenz des Vortragenden heraus. Wer ihn dagegen nicht kennt, kann sich wohl kaum vorstellen, wie viel Lernfähigkeit Peter jedem Menschen zugetraut hat, auch wenn er noch so schiefe Thesen aufstellt. Peter war unglaublich ehrlich und gradlinig. Er hat sich immer nur mit den potentiellen Stärken der Menschen verbündet. Wenn jemand behauptete, etwas nicht zu können, oder dafür keine Begabung zu besitzen, etwa für die Mathematik, dann war Peter in seinem Streben, das Gegenteil zu beweisen, kaum zu bremsen. Um Peter herum entstand daher Gemeinschaft, und zwar eine Art von Gemeinschaft, in der die Herausforderungen des Lebens zu intellektuellen Problemen und die intellektuellen Probleme zu Herausforderungen des Lebens wurden. Das hatte nichts Ausschließendes, wenn man sich nicht selber ausschloss, etwa weil eine solche kollektive Nähe ebenfalls eine Herausforderung sein konnte. Genauer gesagt, um Peter herum haben sich viele Gemeinschaften gebildet. Oft saßen wir im Institut Freitags abends noch spät mit Peter bei der Arbeit, da gehörte es zum Ritual, „beim Schach“ abzusagen, weil die Arbeit vorging. Dennoch war uns klar: da war noch eine Gruppe von Freunden, deren Verlässlichkeit und Anhänglichkeit an Peter solche Absagen keinen Abbruch taten, und die plötzlich da waren, wenn sie gebraucht wurden, etwa weil irgend jemand von uns rechtlichen Beistand benötigte und unter den Schachfreunden kompetente Juristen waren, so wie Pio, der auch mir sehr geholfen hat. Dann sind da die engen Freunde aus Lüneburg, wo Peter einst Professor werden sollte, wenn nicht politische Gründe dagegen gestanden hätten: Diethelm, Sabine, Richard und Sigrid, die beiden Martins. Immer wieder gab es überraschende Querverbindungen zu ihnen, die Brücken schlugen zwischen den ganz verschiedenen Welten, an denen Peter teilhatte. Ob es um ein Kunstprojekt, einen Film über China, ein Forschungsprojekt über die Renaissance, oder einfach nur um einen Rat ging, der irgendwo in Peters weit verzweigtem Freundeskreis gebraucht wurde, immer war auf die Lüneburger Verlass, wie auf eine geheime Reserve, auf die Peter jederzeit zurückgreifen konnte. Peter hatte einige solcher Reserven. Ein Leben lang hat Peter von dem gezehrt, was er von Károly Csipák über Hanns Eislers Musik und was er von Klaus Heinrich über Religionswissenschaft gelernt hatte. Mit Christine Keitel-Kreidt hat er heroische Zeiten in der Bildungsforschung erlebt, immer unterstützt von Wolfgang Edelstein. Viele Lehrer, denen er in dieser Zeit begegnet ist, blieben Freunde für ein Leben. Einen philosophischen Kreis gab es um ihn, gemeinsam mit Peter Furth, der ebenfalls ein lebenslanger Freund blieb. Mit Bob Englund und Hans Nissen, später mit Steve Tinney, Manfred Krebernick und Eva Cancik-Kirschbaum hat Peter nicht nur die Welt der Keilschriftforscher verändert, sondern auch einen weltweiten Freundeskreis aufgespannt. In Brasilien und China hat er enge Freunde gefunden, für die er zum Vorbild eines Wissenschaftlers wurde, für den gesellschaftliche Verantwortlichkeit zum Kern seiner Wissenschaft gehörte. Daher auch sein Einsatz für ein brasilianisches Projekt zur Verbindung von Ethnomathematik und Genossenschaftswesen. Ich kann nicht alle nennen, nur soviel sei gesagt: Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und die Menschen am Institut, und zwar nicht nur die Wissenschaftler, hat Peter geprägt wie kaum ein anderer, auch weil er solche Reserven einzubringen hatte. Peters ganz verschiedene Gemeinschaften, die Familie, die Bildungsforscher, die Keilschriftforscher, die Computerfachleute und die Wissenschaftshistoriker standen in der Tat nie unverbunden nebeneinander und seine Freundschaften haben sich oft von einem Kreis auf den anderen übertragen. Und von seinen Freundschaften hat Peter gelebt, mit Herz und Verstand. Heute müssen wir von seinen Freundschaften leben, ohne ihn. Nur so können wir ihn in uns lebendig halten. Er war immer für uns da, er war immer erreichbar, nur einen Anruf entfernt, nur einmal kurz bei ihm vorbeischauen, wenn man noch eine Frage hatte. Heute müssen wir versuchen, – noch mehr als bisher – für einander da zu sein und auch für seine Familie. Manchmal haben wir Peter allerdings auch länger nicht gesehen, doch konnten wir immer sicher sein, dass man an eine Freundschaft mit ihm selbst nach Jahren noch bruchlos anknüpfen konnte. Natürlich haben wir gelernt, auch ohne ihn zu leben. Aber im Ernstfall, bei wirklich schwierigen Fragen, können wir es uns doch noch kaum vorstellen, ohne ihn auszukommen. Er war eine Konstante in unserem Leben, und jetzt müssen wir ein neues beginnen. Was uns bleibt, ist, was wir von ihm gelernt haben, aber auch die Gemeinschaft, in der wir es gelernt haben, vor allem aber die Erinnerung an einen einzigartigen Menschen und die Liebe, die uns mit ihm verbunden hat. Ich glaube, dass Peter es sich so gewünscht hätte, als er von uns gehen musste. Vielleicht hätte er sich seinen Abschied so vorgestellt, wie es Bertolt Brecht über den Tod des griechischen Philosophen Empedokles schreibt, der sich mit seinen Schülern auf den Berg Ätna begeben hatte, mit ihnen bis zuletzt gearbeitet und diskutiert hat, um dann doch, unbemerkt von ihnen, allein zu sterben: Immer noch stellten Einige Ihre Fragen zurück bis zu seiner Wiederkehr, während schon andere Selber die Lösung versuchten. Langsam wie Wolken Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern So entfernte er sich aus ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise. Peter hat mit uns ebenfalls bis zuletzt gearbeitet und diskutiert, und auch sein Familienleben nach den bewährten Rhythmen weitergeführt. Solange es ging, hat er immer noch am Sonntag das Essen für die Familie zubereitet. Seine Krankheit hat er sieben lange Jahre, gegen jede medizinische Wahrscheinlichkeit, mit seiner schier unglaublichen Willensstärke bekämpft und zugleich mit Engelsgeduld getragen. Was ihm vor der Krankheit wesentlich war, blieb es auch danach, er war unbeirrbar, unbestechlich, klaglos bis zuletzt. Er wollte weitermachen, nun müssen wir es tun. Trost kommt nur aus dem Leben selbst. Ein erfülltes Leben, das hat Peter gehabt, und das kann uns vielleicht mit seinem Tod versöhnen. Peter war nicht religiös, aber offen für alle Ängste, Sorgen, Mühen und Hoffnungen, die in der Religion zum Ausdruck kommen, ebenso wie für ihre Weisheit. In der Tradition seiner Familie hat er sich als junger Mann der Jugendweihe unterzogen. Ich schließe daher mit dem Weihespruch Erich Mühsams, der ein Lebensmotto von Peter hätte sein können:
Wollt ihr die Freiheit, so seid keine Knechte.Peter: wir denken an Dich! ~~DISCUSSION:off~~
Wollt ihr das Gute, so schaffet das Rechte.
Wollt ihr die Ernte, so sichert die Saat.
Wollt ihr das Leben, so leistet die Tat.