Peter Damerow (1939-2011)
Der Mathematiker, Philosoph, Bildungsforscher und Wissenschaftshistoriker Peter Damerow wurde am 20. Dezember 1939 in Berlin geboren und erlag im Beisein seiner Familie am 20. November 2011 im Benjamin Franklin Klinikum Berlin seiner Krebserkrankung. Er war eine ungewöhnlich vielseitige Wissenschaftlerpersönlichkeit: zugleich Realist und Visionär, ein Mensch, der außerordentlich großzügig mit seinen Gaben umging – auch mit der Gabe, lebenslange Freundschaften zu schließen.
Peter Damerow wurde zunächst Chemielaborant und übte diese Tätigkeit einige Jahre lang aus, unter anderem auch in Jugoslawien. Sein Abitur machte er auf dem zweiten Bildungsweg und studierte danach Mathematik und Philosophie an der Freien Universität Berlin. In den sechziger Jahren engagierte er sich an prominenter Stelle in der Studentenbewegung und war zusammen mit Wolfgang Lefèvre 1965 ASTA-Vorsitzender an der FU. Er gehörte zu den studentischen Vertretern der Kommission, die Benno Ohnesorgs Tod untersuchte. Sein entsprechender Bericht wurde im »Kursbuch« von Hans-Magnus Enzensberger veröffentlicht.
In der Philosophie galt sein besonderes Interesse Kant, Hegel und Marx. Zu den prägenden philosophischen Erfahrungen gehörte ein über viele Jahre gemeinsam mit Peter Furth, Bernhard Heidtmann und Wolfgang Lefèvre durchgeführtes Hegelkolloquium. Aber auch die Religionswissenschaft, wie sie Klaus Heinrich lehrte, die Didaktik der Mathematik und die kulturellen und sozialen Kontexte von Wissenschaft gehörten bereits damals zu seinen Interessen.
In der Mathematik begeisterte er sich für das konsequent Abstrakte. 1969 legte Peter Damerow sein Diplom in Mathematik über ein Thema der Kategorientheorie ab. 1977 promovierte er zum Dr. math. an der Universität Bielefeld über das Thema »Die Reform der Lehrpläne für den Mathematikunterricht der Sekundarstufe I in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland 1963–1974«. Sein akademischer Lehrer war Karl-Peter Grotemeyer, der 1967 das zweite Institut für Mathematik der Freien Universität gegründet hatte und hochschuldidaktisch neue Perspektiven eröffnete, unter anderem durch Diskussionen in den Vorlesungen und die Einrichtung von Tutorengruppen. Es war die Zeit der so genannten »Bildungskatastrophe«. Angesichts seines hochschuldidaktischen Engagements wurde Grotemeyer vielfach dazu aufgefordert, sich auch darüber hinaus für die Verbesserung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung einzusetzen. Er beauftragte Peter Damerow gemeinsam mit Christine Keitel-Kreidt, einen Antrag an die Volkswagen-Stiftung zu entwerfen, um ein zentrales Forschungsinstitut für Didaktik der Mathematik in Berlin aufzubauen. Der Antrag war erfolgreich, doch hatte Grotemeyer inzwischen einen Ruf an die neue Universität Bielefeld angenommen, so dass das Institut dort aufgebaut wurde. Peter Damerow allerdings blieb in Berlin.
Das hatte seine Gründe. Als die Mathematik-Professur an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abteilung Lüneburg, 1975 neu besetzt werden sollte, wurde Peter Damerow trotz fehlender Habilitation und noch nicht abgeschlossenem Promotionsverfahren auf den ersten Platz der Berufungsliste gesetzt. Neben seinen herausragenden kritischen Schriften insbesondere zur Reform des Mathematikunterrichts, zu Lerntheorien, zur Leistungsmessung und zur Chancengleichheit hatte sein Bewerbungsvortrag »Didaktische Probleme der Verwendung des Rechenstabs im Schulunterricht« erst Verwunderung ob dieser scheinbar veralteten Fragestellung, dann Begeisterung über seinen zukunftsweisenden neuen und didaktisch fundierten klugen Blick auf dieses unspektakuläre Thema ausgelöst. Obwohl Peter Damerow die Liste anführte, wurde er dann doch nicht berufen, was offenbar mit dem Wechsel der Niedersächsischen Landesregierung von der SPD zur CDU zusammenhing. Dennoch hielt er in Lüneburg eine Einführungsvorlesung in das Studium der modernen Mathematik, die in geradezu zwingenden Schritten die Studierenden ausgehend von der Alltagserfahrung in die höhere Mathematik und ihre Sprache einführte. Es folgten Vorträge zu fachdidaktischen Themen, aber auch zu ersten historischen Problemstellungen. Die gemeinsame Arbeit mit Lüneburger Kollegen wie insbesondere mit Diethelm Stoller an der Entwicklung eines projekt- und schülerorientierten Mathematikunterrichts wurde insbesondere im Rahmen der hessischen Gesamtschulprojekte KORAG (Konkretisierung der hessischen Rahmenrichtlinien) und SUGZ (Systematische Umsetzungen gesamtschulspezifischer Zielsetzungen) zusammen mit hessischen Gesamtschullehrerinnen und -lehrern geleistet. Sie fand ihren Niederschlag in mehreren umfangreichen Sammlungen von Unterrichtsmaterialien. Zeit seines Lebens blieb Peter Damerow eng mit seinem Lüneburger Freundeskreis verbunden.
1974 wurde Peter Damerow wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo er sich mit der Entwicklung des Mathematik-Curriculums beschäftigte. Sein Engagement galt dabei stets der Überwindung sozialer Schranken auch bei der Verbreitung mathematischen und naturwissenschaftlichen Wissens. Diese Beschäftigung brachte ihn schon früh in Kontakt mit Fragen der historischen Entwicklung der mathematischen Wissenschaften. Am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung arbeitete Peter Damerow zunächst im Forschungsbereich von Peter M. Röder, später im Forschungsbereich »Entwicklung und Sozialisation« von Wolfgang Edelstein, wo er das Projekt »Kultur und Kognition« betreute. Er war Mitarbeitervertreter in der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Max-Planck-Gesellschaft und zeitweise Mitglied im Senat der MPG.
Viele Jahre lang leitete Peter Damerow zusammen mit Wolfgang Lefèvre das Forschungskolloquium »Begriffsentwicklung in den Naturwissenschaften« als eine gemeinsame Veranstaltung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Freien Universität Berlin. Dieses Kolloquium wurde, nicht zuletzt durch die Initiative von Wolfgang Edelstein, zu einer der Keimzellen des 1994 gegründeten Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte und einer kontextbezogenen, theoretisch orientierten Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Zwei der späteren Direktoren, Jürgen Renn und Hans-Jörg Rheinberger, sowie eine Reihe von Mitarbeitern des Instituts, darunter Jochen Büttner, Jörg Kantel, Hartmut Kern, Ursula Klein, Wolfgang Lefèvre, Peter McLaughlin, Staffan Müller-Wille, Jochen Schneider und Urs Schoepflin, gehörten dem Kolloquium an. Wegweisend war das 1981 von Peter Damerow gemeinsam mit Wolfgang Lefèvre herausgegebene Buch Rechenstein, Experiment, Sprache. Historische Fallstudien zur Entstehung der exakten Wissenschaften.
In seinem Beitrag zu diesem Buch beschäftigte Peter Damerow sich insbesondere mit der Entstehung des Zahlbegriffs in den frühen Hochkulturen. Daraus entwickelte sich bald ein zentraler Arbeitsschwerpunkt, der ihn auch weltweit bekannt gemacht hat, die Entstehung von Schrift und Zahl in Mesopotamien. Seit 1982 arbeitete Peter Damerow gemeinsam mit dem Archäologen Hans Nissen und dem Philologen Robert K. Englund über die archaischen Texte und die Proto-Keilschrift. Peter Damerow gehörte zu den Pionieren der heute so genannten »Digital Humanities«. Als er 1982 Robert K. Englund kennenlernte, der damals gerade seine Assistentenzeit bei Hans Nissen begann, bemerkte er in dessen Büro einen Stapel von Lochkarten, den er sogleich ins Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mitnahm. Die Kollegen von der vorderasiatischen Altertumskunde hatten ihre technische Unterstützung verloren und sahen keine Möglichkeit, aus den auf diesen Lochkarten gespeicherten Daten weiter zu verarbeiten. Peter Damerow besaß dagegen die Zuversicht des Mathematikers, dass ein solches Problem lösbar sein müsse, hatte Zugang zum Rechenzentrum des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und die nötigen Programmierkenntnisse in LISP, um die Daten auszuwerten. Daraus wurde der Beginn des elektronischen Uruk-Projekts. Peter Damerow setzte also bereits damals computergestützte Analysemethoden ein, um die gegenstandsbezogenen Zahlsysteme des frühen babylonischen Rechnens zu entziffern und erzielte damit durchschlagende Erfolge. Diese Arbeiten führten zur gemeinsam mit Robert K. Englund begründeten »Cuneiform Digital Library Initiative« (CDLI), der weltweit bedeutendsten digitalen Keilschriftbibliothek, die neben Reproduktionen von Keilschrifttafeln in hoher Auflösung auch Transkriptionen, Katalogdaten und elektronische Publikationsorgane umfasst.
Peter Damerow wurde so auch zu einem der frühen Vertreter des »Open Access«-Prinzips für Forschungsdaten und Publikationen in den Geisteswissenschaften. Bis zu seinem Lebensende blieb er von den Möglichkeiten neuer Technologien für innovative Forschung fasziniert. Zuletzt wurde er, unterstützt von Jörg Kantel, zu einem der Protagonisten des Einsatzes dreidimensionaler Scanning-Technologien in den geisteswissenschaftlichen Instituten der Max-Planck-Gesellschaft. Als Pilotprojekt diente ihm dabei die gemeinsam mit Manfred Krebernick durchgeführte Erschließung der berühmten Hilprecht-Sammlung von Keilschriften in Jena.
Im Rahmen des bereits genannten Forschungskolloquiums, das sich über viele Jahre regelmäßig montagabends im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung traf, verfolgte Peter Damerow auch eine Vielzahl anderer wissenschaftshistorischer Projekte. Überhaupt kann seine Förderung der Wissenschaftsgeschichte durch Anstöße, die er in intensiven Gesprächen gab, durch seine kritische Lektüre von Texten, die ihm vorgelegt wurden, und durch die unerschöpfliche Energie, mit der er laufende Forschungsprojekte unterstützte, kaum überschätzt werden. Er war dabei von der Vision geleitet, dass sich aus der Wissenschaftsgeschichte eine historische, empirisch gestützte Theorie der Entwicklung des Wissens gewinnen lassen könnte, eine Vision, die heute im Zusammenhang mit einer »historischen Epistemologie« diskutiert wird. Seine eigenen Beiträge dazu sind unter anderem exemplarische Studien zur Entwicklung des Zahlbegriffs, die empirisch breit fundiert sind und zugleich theoretische Grundlagen für eine so verstandene historische Epistemologie erarbeitet haben. Beispielhaft sei hier nur sein Aufsatz »Individual Development and Cultural Evolution of Arithmetical Thinking« von 1988 genannt.
Das Entstehen dieser Perspektive verdankt sich nicht zuletzt auch den Einsichten in den Zusammenhang zwischen Kultur und Kognition, die im Zentrum des von Wolfgang Edelstein geleiteten Forschungsbereiches am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung standen. Diese Einsichten betreffen die Verbindungen zwischen individuellen Lernprozessen, wie sie dort im erweiterten Rahmen der genetischen Erkenntnistheorie Jean Piagets studiert wurden, der Begriffsentwicklung, wie sie in der philosophischen Erkenntnistheorie und Logik insbesondere auch im Werk Hegels untersucht wird, und historischen Transformationsprozessen, wie sie im Zentrum der Gesellschaftsanalyse von Marx stehen. Peter Damerow ist diesen Verbindungen in vielen Facetten nachgegangen und hat daraus seine eigenen Vorstellungen einer historischen Epistemologie entwickelt, die in seinem aus einzelnen Aufsätzen zusammengestellten Buch Abstraction and Representation von 1995 umfassend dargestellt ist.
Ein weiteres zentrales Arbeitsgebiet Peter Damerows war die Geschichte der Physik. Bereits in den achtziger Jahren spielten im Rahmen des Berliner Montagskolloquiums sowohl die wissenschaftliche Revolution der frühen Neuzeit als auch die Entstehung der modernen Physik eine wichtige Rolle. Aus den dortigen Diskussionen entwickelte sich eine langfristige Zusammenarbeit zwischen Peter Damerow, Gideon Freudenthal, Peter McLaughlin und Jürgen Renn. Ein gemeinsames Buch, »Exploring the Limits of Pre-Classical Mechanics«, erschienen 1992, analysierte anhand konkreter Fallstudien grundsätzliche Züge der Begriffsentwicklung in den Naturwissenschaften. Aus diesem Ansatz entwickelte sich später das am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte verfolgte Forschungsprogramm einer Geschichte der mentalen Modelle der Mechanik, das heute am Institut insbesondere von Jochen Büttner, Matthias Schemmel und Matteo Valleriani in Kooperation unter anderem mit Rivka Feldhay fortgesetzt wird. 1994 wurde Peter Damerow an der Universität Konstanz im Fachbereich Philosophie habilitiert. Dort führte er – oft gemeinsam mit Peter McLaughlin und Jürgen Renn – eine Reihe von Forschungsseminaren zur Begriffsentwicklung in den Naturwissenschaften durch.
Auch im Bereich der Physikgeschichte engagierte sich Peter Damerow für den Einsatz der neuen Informationstechnologie, um neue Forschungsperspektiven zu eröffnen. Gemeinsam mit Jürgen Renn, Jochen Büttner, Simone Rieger und Martin Warnke und anderen sowie unterstützt vom Florentiner Museum für Wissenschaftsgeschichte und der dortigen Nationalbibliothek entwickelte Peter Damerow das Konzept einer elektronischen Repräsentation der Manuskripte Galileis zur Mechanik, die offen im Internet verfügbar ist. Darauf aufbauend wurden später am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte gemeinsam mit Jochen Büttner, Jörg Kantel, Jürgen Renn, Simone Rieger, Urs Schoepflin und Dirk Wintergrün weitere digitale Forschungsbibliotheken entwickelt, insbesondere die breit angelegte ECHO (European Cultural Heritage Online)-Umgebung, an die sich Entwicklungen wie die der Europeana und der Deutschen Digitalen Bibliothek angeschlossen haben. Im Jahr 2003 gehörte er zusammen mit Jürgen Renn und Robert Schlögl zu den geistigen Vätern der Berliner Erklärung der Max-Planck-Gesellschaft für offenen Zugang zu wissenschaftlichen Informationen und zum kulturellen Erbe. 2010 entwickelte Peter Damerow die Idee einer Open-Access-Buchreihe nach dem Print-on-demand-Prinzip, die von ihm dann – gemeinsam mit Jürgen Renn, Bernard Schutz und Robert Schlögl, unterstützt unter anderem von Lindy Divarci, Beatrice Gabriel, Jörg Kantel und Matthias Schemmel – als »Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge« umgesetzt wurde.
Für Peter Damerow war die Wissenschaftsgeschichte nie eine spezialisierte Disziplin, sondern ein Forschungsgebiet, das er als Teil seines umfassenden Interesses an der Entwicklung menschlicher Kognition ansah. Er war daher auch Pionier einer interdisziplinär verstandenen Wissensgeschichte. Bereits seine Arbeiten zur Entstehung von Schrift und Zahl hatten deutlich gemacht, dass die Entstehung abstrakter Begriffe nur zu verstehen ist, wenn man die Rolle der jeweils historisch konkret gegebenen Repräsentationen des Denkens und der durch sie gegebenen Handlungs- und Reflexionsmöglichkeiten ernst nimmt, also etwa die spezifische Rolle, die Keilschrifttafeln in der babylonischen Verwaltung spielten. Diese Einsicht erlaubte ihm auch Beiträge zu völlig andersartigen Gebieten, etwa zur Kulturanthropologie. Gemeinsam mit Wulf Schiefenhövel und aufbauend auf dem von ihm über das Leben der Eipo in Papua-Neuguinea gesammelten Materialien untersuchte Peter Damerow beispielsweise die kulturspezifischen kognitiven Strukturen und ihre Repräsentationen, die den Eipo erstaunliche Denkleistungen in Bereichen wie dem Hausbau, dem Fallenstellen oder der räumlichen Orientierung ermöglichen. Diese Erkenntnisse wiederum brachte er in andere Forschungsprojekte des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte ein, insbesondere in ein gemeinsam mit Jürgen Renn konzipiertes Projekt zu einer epistemischen Geschichte der Architektur und ein gemeinsam mit Matthias Schemmel konzipiertes Projekt zur historischen Entwicklung des räumlichen Denkens.
Außereuropäische Wissenstraditionen spielten im Denken und Handeln Peter Damerows eine herausragende Rolle. Seine engen Beziehungen zu brasilianischen Wissenschaftlern gehen noch in die Mitte der achtziger Jahre zurück, in seine Zeit als Bildungsforscher, als er sich im Rahmen der UNESCO gemeinsam mit Christine Keitel-Kreidt, Paulus Gerdes, Ubiratan d'Ambrosio, und Circe Silva da Silva Dynikoff und anderen für eine kontextualisierte Mathematik einsetzte, die im Prinzip allen Menschen den Zugang zu mathematischem Wissen eröffnet. Aus diesen Kooperationen ist ein immer noch lebendiger regelmäßiger Wissenschaftleraustausch des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte mit Brasilien erwachsen, aber auch ein konkretes Hilfsprojekt für die Mathematikausbildung in Brasilien. Später im Rahmen seiner Arbeit am Institut half Peter Damerow beim Aufbau wissenschaftlicher Beziehungen zu China und Spanien. Gemeinsam mit Zhang Baichun, Tian Miao, Jürgen Renn und Matthias Schemmel entstanden Arbeiten zur Geschichte der Mechanik in China, darunter, mit der Unterstützung von Richard Röseler, auch ein Dokumentarfilm. In all diese Kooperationen brachte Peter Damerow seine Erfahrungen in der Entwicklung digitaler Forschungsumgebungen ein und half so ganz konkret dabei, den »Digital Divide« zu überwinden. In La Orotava auf Teneriffa und in Beijing entstanden mit seiner Hilfe, unterstützt von Urs Schoepflin und Simone Rieger, Digitalisierungszentren, die noch heute dazu beitragen, kulturelles Erbe zu sichern, für die Forschung verfügbar zu machen und für eine breitere Öffentlichkeit aufzubereiten.
Peter Damerows Interesse an einer Verbreitung wissenschaftlichen Wissens führten auch immer wieder dazu, dass er sich für Ausstellungsprojekte begeistern konnte. Sein Interesse an archaischen Keilschrifttafeln führte dazu, dass sich der Berliner Senat 1988 mit Lotto-Mitteln gemeinsam mit einem internationalen Museumskonsortium an der Ersteigerung der privaten Erlenmeyer Sammlung archaischer Keilschriften durch das Auktionshaus Christie’s in London beteiligte. Da Senatsbeamte normalerweise über keine Auktionserfahrungen verfügen, sprach Peter Damerow gemeinsam mit einer in solchen Angelegenheiten erfahrenen Beraterin die Ersteigerungstaktik ab, die schließlich dazu führte, dass die Sammlung praktisch vollständig an öffentliche Einrichtungen überging und heute zum Teil im Pergamon-Museum aufbewahrt wird. Diese Anschaffung war die Grundlage für das erste größere Ausstellungsprojekt Peter Damerows, das Ende der achtziger Jahre zu einer viel beachteten Ausstellung über die Entstehung der Schrift im Charlottenburger Schloss führte. Der gemeinsam mit Hans Nissen und Robert K. Englund verfasste Begleitband wird immer noch, insbesondere in seiner englischen Version, als Lehrbuch der Assyriologie genutzt. Zusammen mit Jochen Schneider entwickelte Peter Damerow später auch Teile der Konzeption des Paderborner Nixdorf-Computer-Museums, in dem ebenfalls die frühen babylonischen Rechentechniken zum Thema gemacht werden.
Auch bei der großen Berliner Einsteinausstellung im Einsteinjahr 2005 spielte Peter Damerow eine Schlüsselrolle. Seine langjährige Kooperation mit Jürgen Renn, Tilman Sauer, Giuseppe Castagnetti, Werner Heinrich, Hubert Gönner, Matthias Schemmel, Michel Janssen, John Stachel und anderen Einsteinforschern bildete den Hintergrund für dieses Engagement. Zusammen mit Jürgen Renn leitete Peter Damerow Ende der achtziger Jahre die vom Berliner Senat finanzierte Arbeitsstelle Albert Einstein am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die bald zu einem Zentrum internationaler Einsteinforschung wurde. Durch seinen Blick für übergreifende Zusammenhänge, seine umfassenden Erfahrungen mit historischen Problemen der Begriffsentwicklung in den Naturwissenschaften und nicht zuletzt seine unbeirrbaren kritischen Nachfragen leistete Peter Damerow einen gewichtigen, allerdings von spezialisierteren Forschern leicht zu unterschätzenden Beitrag zum Verständnis der Entstehung der Relativitätstheorie. Die Konzeption und Realisierung der großen Einsteinausstellung wäre ohne seinen Einfallsreichtum und sein Durchhaltevermögen nicht denkbar gewesen. Die Idee einer virtuellen Ausstellung, die zugleich die Medien der Ausstellung steuert und die Inhalte der Ausstellung langfristig und frei verfügbar im Netz vorhält, geht auf seine Anregungen und Arbeiten zurück, die gemeinsam mit seiner Tochter Julia Damerow sowie mit Malcolm Hyman und Jürgen Renn umgesetzt wurden.
Mit Peter Damerow haben wir einen visionären Lehrer, Kollegen und Freund verloren. Er hat uns intellektuell herausgefordert, radikal und kompromisslos – und war ebenso unbedingt loyal und hilfreich in allen menschlichen Angelegenheiten. Er hat viele Biographien geprägt und vielen Forschungsrichtungen neue Wege gewiesen. Noch über Jahre werden Bücher und Artikel erscheinen, die durch sein Denken geprägt sind und zu denen er entscheidende Anstöße gegeben hat. Er hatte eine unvorstellbare Kraft und Ausdauer, in der Arbeit ebenso wie in der menschlichen Zuwendung. Er war ein überragender Geist und zugleich der kooperativste Mensch, den man sich denken kann, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Unbeugsamkeit. Seine Gradlinigkeit konnte verletzend sein, aber einem versöhnlichen Gespräch hat er sich nie verweigert. Wir, die wir ihm nahe sein durften, sind dankbar dafür. Peter Damerow hinterlässt seine Frau Ingrid und die beiden Töchter Julia und Sophie. Ihnen gilt unsere Anteilnahme und Unterstützung.
Für die Freunde und Kollegen Peter Damerows
Jürgen Renn
(mit Beiträgen u.a. von Robert K. Englund, Christine Keitel-Kreidt, Peter McLaughlin und Diethelm Stoller)